Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 23


Inzwischen war Tiscio außer Atem bei seinem Heimatrevier angekommen und hatte sich hastig zu Oberwachtmeister Beulfung durchgefragt. Der Mann war immer noch damit beschäftigt, Ordnung in das Chaos des Einbruchs zu bringen, obwohl mittlerweile auch Hauptwachtmeister Albrecht wieder im Revier eingetroffen war.
Tis hätte natürlich mal ein weiteres Mal ganz nach oben in der Hierarchie gehen können. Da die Nachricht, die er überbrachte, jedoch auf Informationen basierte, die er außerhalb seines Dienstes gesammelt hatte, entschied er, bei seinem ursprünglichen Plan zu bleiben.
"Herr Oberwachtmeister!"
"Wachtmeisteranwärter Canil. Ich dachte, ihr Dienst wäre für heute beendet?"
"Mein Freund, der Erfinder Gunnar van der Linden, hat mit einem Gerät seines Vaters eine Spur gefunden, die von einem Fenster im Nachbarhaus bis in die Altstadt führt", stieß der junge Mann hektisch hervor und musste nach dem langen Satz erste einmal Luft holen.
"Das ist ein sehr ungenauer Bericht und ich sehe derzeit keinen Zusammenhang mit unserem dringendsten Problem. Erklären sie sich!"
Und so erklärte Tiscio. Da sich nach den ersten Sätzen immer mehr Augen auf ihn hefteten, wurde er von Sekunde zu Sekunde nervöser und zog seine Geschichte unnötig in die Länge, indem er Schleifen zu bereits berichtetem schlug, um Fakten nachzutragen, die er beim ersten Durchlauf ausgelassen hatte.
Trotzdem lobte ihn der Oberwachtmeister am Ende: "Gute Initiative, Wachtmeisteranwärter. Aber nächstes Mal erstatten sie zuerst eine Meldung, bevor sie sich in Gefahr begeben." Mit der Schelte konnte Tiscio in diesem Moment recht gut umgehen.
"Wir haben eine Spur!" rief Beulfang in den Raum und begann auf einige Wächter zu zeigen. "Ihr drei kommt mit mir." Und schon machte er sich auf den Weg zurück zu dem Ort, wo der Wachtmeisteranwärter seine Freunde zurückgelassen hatte. Er schritt voran, während die Wachtmeister ihm im Care folgten. Tiscio hatte sich eingereiht, erschöpft aber stolz.

Die Gefühle, denen sich Malandro und Gunnar derzeit ausgesetzt sahen, bewegten sich hingegen eher zwischen Unglaube, Verblüffung und Panik. Sobald sich die Maschine in Bewegung gesetzt hatte, hatten sie die Beine in die Hand genommen und waren die Straße hinuntergelaufen, so schnell sie nur konnten.
Dadurch dass Gunnar noch nicht so dicht ans Tor herangekommen war, hatte er derzeit einen kleinen Vorsprung, den er jedoch bald verloren hätte, da der Schnüffler ihn beim Rennen behinderte. Allerdings genügte in dieser Situation und zu diesem Zeitpunkt der Verfolgung der Abstand zu Malandro vollauf, denn der Automat erreichte Mal noch bevor jener seinen Freund eingeholt hatte. Die Maschine versuchte ihm tatsächlich mit einer seiner Metallstangen, auf denen sie sich bewegte, ein Bein zu stellen. Malandro fing sich jedoch rechtzeitig und zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm, sein Klappmesser mit einer einzigen fließenden Bewegung aus der Jackentasche zu ziehen und zu öffnen.
Allerdings zeigte sich in diesem Moment mal wieder die alte Weisheit, dass man nicht mit einem Messer zu einem Armbrustkampf erschien, oder in diesem Fall zu einem Kampf mit einer Maschine, deren Klauenfinger länger waren, als der eigene Unterarm.
Mit je einem Hieb einer seiner beiden Hände, schnitt der Automat in den Oberleib, und Malandro gelang es nur, schlimmere Verwundungen zu verhindern, indem er vor den Klauenfingern zurücksprang. Es tat höllisch weh.
Der junge Zauberer gelangte in diesem Moment zu der Einsicht, dass er in Ermangelung einer festen Freundin, derzeit kein Liebhaber war, was aber noch lange nicht bedeutete, dass er ein Kämpfer sein musste. Aus den Augenwinkeln entdeckte er eine schmale Gasse, in die er nur seitlich hineingelangen würde, was aber auch bedeutete, dass die Maschine sie mit ihrem breiten Unterbau sie überhaupt nicht betreten konnte.
Es gelang ihm tatsächlich, sich lange genug von seinem Gegner abzusetzen, um ohne weiteren Schaden zu nehmen, in die Gasse zu gelangen. Schnell war er weit genug zwischen den Wänden verschwunden, um außerhalb der Reichweite jegliches Klauenangriffs zu sein. Als geübter Wegläufer entspannter er sich zwar, gab seine Flucht jedoch noch nicht auf.
Grinsend blickte er zum Automaten zurück, der jedoch Malandros Triumph zum Anlass zu nehmen schien, die Verfolgung fortzusetzen, nachdem er für einen Moment vor der Gasse innegehalten hatte. Er drehte den Oberkörper zur Seite und ging vorsichtig auf die Gasse zu, setzten eines seiner vorderen Stelzenbeine an eine Hauswand, bewegte sich ein Stück weiter und zog auch ein hinteres Bein in die Höhe, sodass er jetzt mit kaum verringerter Geschwindigkeit die Gasse entlang krabbeln konnte.
Entsetzen verleiht oft genug Flügel, wobei dem jungen Zauberer in diesem Fall starke Beine und ein widerstandsfähiger Rücken genügten. Er tat es der Maschine gleich, setzte seine Beine an eine der Wände und schob sich mit dem Rücken an die andere Gedrückt in die Höhe.
Erneut zögerte sein Verfolger, zog dann aber auch die anderen beiden Beine nach oben und drückte sich nach hinauf. Jeder Schritt hinterließ dabei ein Loch in der Wand, was den Aufstieg aber nur wenig verlangsamte.
Malandro blieb nichts Anderes übrig, als seine Strategie erneut zu überdenken. Er gewann noch ein wenig an Höhe und brach einen kleinen Fensterladen auf, der vermutlich in irgendeine winzige Kammer führte. Glücklicherweise war die Gasse so eng, dass er seine Hände für den Einstieg verwenden konnte.
Und so polterte er in ein Bett, in dem zwei Kinder und ihre Mutter aufschrien, während hinter ihm eine Klaue durch das Fenster griff und ihn nur knapp verfehlte.
Malandro fragte sich gerade noch, warum die Leute schon um diese Zeit im Bett lagen, als die Frau ein Zündholz zog und mit ernster Indignation fragte: "Was tun sie in unserem Bett?"
Ungeschickt befreite er sich von Kindern und Decke und verließ das Haus durch den Eingang einer Bäckerei, was wenigstens seine Frage beantwortete.
Er wagte einen schnellen Blick in die Gasse, wo der Automat immer noch durch das Fenster grabschte. Dann betrachtete er sein zerschnittenes und blutverschmiertes Hemd und grummelte "den zeige ich an" in seinen nicht vorhandenen Bart.

Als die Metrowächter zehn Minuten später eintrafen fanden sie das Tor offen vor, konnten aber keine Bandenmitglieder entdecken.
"Herr Wachtmeister! Gut dass sie vorbeikommen. Hier lungerten zwei Straßenräuber herum."
"Guten Abend, Herr", Oberwachtmeister Beulfang blickte zum Schild hinauf, "Gwylain? Wir werden uns darum kümmern. Allerdings sind wir hierhergekommen, um ihr Haus zu untersuchen."
Wie vor den Kopf geschlagen blickte der Erfinder die kleine Gruppe an. "Warum? Wessen werde ich angeklagt?" fragte er mit metallener Stimme.
"Sie stehen im Verdacht, in die Metrowacht eingebrochen und dabei wichtige Beweismittel geraubt zu haben."
Erneut zögerte der Mann. "Ich soll was? Wie kommen sie denn darauf? Was für einen Grund hätte ich dafür gehabt?"
"Über etwaige Motive wissen wir derzeit noch nichts. Wenn sie jedoch nichts zu verbergen haben, werden sie uns sicherlich erlauben, ihr Haus zu betreten und eine gründliche Untersuchung durchzuführen."
"Aber ... ja, natürlich habe ich nichts zu verbergen. Kommen sie bitte herein." Als die fünf Wächter die kleine Werkstatt betraten fügte er jedoch noch hastig hinzu: "aber seien sie bitte vorsichtig mit den Uhrwerken."
Tiscio, der in seiner Ausbildung noch nicht in die offiziellen Vorgehensweisen bei einer Hausdurchsuchung eingewiesen worden war, musste beim Erfinder stehen bleiben.
Nach einigen schweigenden Minuten, die die beiden unruhig in der Nachtluft den Augenkontakt vermieden hatten, fragte Tiscio: "Wohnen sie alleine hier?" dabei warf er einen Blick zum Durchgang von der Werkstatt zum Haus.
"Äh, nein, meine Frau und unsere beiden Töchter sind nebenan."
"Ah."
"Ja, mhm."
Wieder trat stille ein, die glücklicherweise unterbrochen wurde, bevor Tiscio einen weiteren Versuch der Kommunikation unternehmen musste.
"Hallo Tiscio. Du bist ja schon zurück."
"Gunnar! Wo wart ihr? Wo ist Mal?"
"Herr Gwylain hat einen Automaten auf uns angesetzt."
"Und da seid ihr lieber abgehauen? Na ihr seid ja Jammerlappen."
"Er hatte lange Klauen. Da wärst du auch weggelaufen", antwortete Gunnar mit einem finsteren Blick auf den älteren Mann.
"Und ich hatte doch recht! Sie haben mein Haus beobachtet", stieß jener triumphierend hervor, bevor er unter den Blicken der beiden jungen Männer verstummte.
Kleinlaut zeigte er schließlich auf die Apparatur in Gunnars Armen. "Ähm, das Gerät kenne ich. Ist das nicht der Schnüffler von Fridtjof?"
Gunnar nickte und Badb Gesicht spiegelte sein Begreifen wider.
"Kann ich ihn mir mal ausleihen?" fragte Tiscio, eine Hand bereits an der Maschine.
"Sie wollen ihn in meiner Werkstatt verwenden?"
"Wir handeln im Auftrag der Wache", behauptete der Wachtmeisteranwärter im Brustton der Autorität, der ihm noch etwas schwerfiel.
"Ist das ihr Beweis? Darum sind sie hier?"
"Wenn sie den Schnüffler kennen, dann wissen sie auch, wie er funktioniert. Er hat uns direkt hierhergeführt. Hier, Moment." Gunnar löste den Gurt und händigte den Schnüffler mit der Sorge aus, ihn jemand unqualifizierten zu geben, aber auch mit Erleichterung, die hauptsächlich von seinen Schultern und seinem Nacken herrührten, die den Beinen immer noch das Wegrennen übelnahmen.
"Auf dem Weg hierher zurück hatte ich übrigens eine Idee."
"Mhm mhm", brummte der ältere, während er sich das Wunderwerk moderner Technik umschnallte und einschaltete.
"Ich glaube, ich meine, es könnte doch sein, dass die Einbrecher hier etwas gekauft haben, um damit einzubrechen."
In diesem Moment piepte der Schnüffler auch schon wieder und führte Tiscio zu einem der wenigen freien Plätze in einem Regal, wo vor nicht allzu langer Zeit noch etwas gestanden haben musste.
In diesem Moment kehrte auch der Oberwachtmeister zurück, der sofort Interesse für die neueingetroffene Gerätschaft zeigte.
"Da ist er ja. Ich habe ihn schon ein paar Mal gesehen, aber noch nie im Einsatz.
"Herr Oberwachtmeister! Die Spur, die wir verfolgt haben, hat direkt hierhergeführt. Ich meine, zu diesem Regal."
"Also eine Erfindung von ihnen, Herr Gwylain. Was hatten sie dort aufbewahrt?"
"Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf. Sie wissen schon: Kundenvertrauen."
"Herr Gwylain. Es ist ein Verbrechen verübt worden, mit ihrem Gerät. Glauben sie nicht, dass der Kunde ihre Verschwiegenheit nicht verdient hat?"
"Ja, da haben sie wohl Recht. Aber es war nur ein Gerät, um zwei Dinge zusammenzuziehen. Zum Beispiel zwei Bäume."
Alle anwesenden wurden hellhörig.
"Und wem haben sie es verkauft?"
"Dem Auftraggeber natürlich. Ich baue nie etwas nur zum Spaß", empörte sich der Erfinder und Gunnar hätte fast den Kopf geschüttelt, weil er nicht begreifen konnte, wie der Mann jemals etwas Neues gelernt hatte, wenn er nur auf Aufträge wartete.
Der Oberwachtmeister hätte gerne aus anderen Gründen den Kopf geschüttelt. "Und wer war der Auftraggeber? Ich gehe doch recht in der Annahme, dass sie seinen Namen kennen", fragte er mit bemühter Ruhe.
"Aber natürlich. Ich habe ihn sogar aufgeschrieben. Einen Moment, bitte." Herr Gwylain ging zu seiner Werkbank und zog ein kleines Büchlein hervor, wie Gunnar es auch für seine Aufträge verwendete. "Hier sehen sie", deutete der Erfinder auf einen Eintrag.
"Imo Keiring?" las der Berti und zog unwillkürlich seine Augenbrauen hoch. "Kennen Sie zufälligerweise jemanden mit diesem Namen, Wachtmeisteranwärter Canil?"
"Ich glaube, auf meiner Tour gibt es mehrere Keirings und auch ein paar Imos. Ich bin aber nicht sicher, ob dort auch ein Imo Keiring dabei ist, Herr Oberwachtmeister."
"Ich kenne mindestens zwei, einer davon ist ein guter Freund. Ich glaube, wir müssen sie vorerst mit auf die Wache nehmen, Herr Gwylain."
"Was? Wieso? Ich habe doch nichts getan!"
"Das werden wir noch sehen." Damit nahm er seinem gegenüber das Auftragsbuch ab und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Die Jungen aus der Feldstrasse